Donnerstag, 04.05.2023
Uli Auffermann

Das „Wilde Männle“ stürzt ab

Damals... im Mai 1962... Ein Gewittersturm fegt in der Nacht zum 8. Mai den brüchigen Gratzapfen hinab.

Alles ist vergänglich. Auch die für die Ewigkeit geschaffenen Berge.

Schleichend und doch allgegenwärtig sichtbar, unterliegt das so zeitlos erscheinende Relief der Alpen den Kräften der Verwitterung. Endlose Geröllfelder sprechen ihre eigene Sprache, selbst wenn darüber die Felswände wie eh und je in den blauen Himmel ragen. Bisweilen gibt es radikale Veränderungen. Felsstürze, die über Nacht das Gesicht eines Gipfels, eines Grates, einer Flanke umgestalten! Was uns gestern noch als Anblick erfreute, ist plötzlich verschwunden.

Jener Felsturm am Heilbronner Weg, das „Wilde Männle“ genannt, gehörte zu einer liebgewonnenen Laune der Geologie. „Ein kühner Felszacken am Nordrand des Wieslekars hoch über dem düsteren Schneeloch des Bacherlochs thronend; kurze, schwierige Kletterei, Gipfelbuch, Kreuz“, hieß es in der Beschreibung des Alpenvereinsführers Allgäuer Alpen von Zettler und Groth, bis am 8. Mai 1962 ein Gewittersturm des Nachts den brüchigen Gratzapfen hinab ins Bacherloch fegte.

Auch wenn die Kletterei hinauf auf den Turm gerade einmal zwanzig Minuten dauerte, war das „Wilde Männle“ einst ein viel bestauntes und oft bestiegenes Fels-Unikat in den Allgäuer Alpen. Und es war noch mehr ein Wahrzeichen für Einheimische wie Touristen – gut sichtbar an der Bergsilhouette hoch über Oberstdorf. Ein wohlvertrauter Anblick, der, als er dann in jener Nacht im Mai verschwand, den meisten fehlte wie ein alter Baum im Vorgarten des Hauses.

Seinen Namen erhielt der Felsturm einstmals vielleicht wegen der Ähnlichkeit mit den aus der Keltenzeit nach rund 2000-jähriger Überlieferung in Oberstdorf ansässigen „Wilden Männdle“, die alle fünf Jahre den traditionellen „Wilden-Männdle-Tanz“ aufführen,bei dem es nach uraltem Brauch für die tanzenden Männer darum geht, im Rhythmus der Musik und der Bewegung Kontakt zu den Kräften der Natur aufzunehmen. Dass man im Allgäu besonderen Felsgebilden Namen gibt, ist ganz typisch. Der Kopf des „Wilden Männle“ brach schon in den 1940er-Jahren ab, und anschließend fehlten etwa zwei Meter an Höhe. Nachdem 1962 dann der Rest zerstört worden war und nur zwei Felsstümpfe wie „Ohren“ stehen geblieben sind, wird seither das Gebilde „Eule“ genannt.
Auch wenn man in unseren Tagen nicht mehr von ganz oben, von der Kanzel des Turmes, schauen kann, so ist auch vom Fuße des übriggebliebenen „Wilden Männle“-Stumpfes der Tiefblick zum Waltenberger Haus und ins Birgsautal beeindruckend.
Man befindet sich schließlich auf dem berühmten Heilbronner Weg, dem nach wie vor vielleicht kühnsten und schönsten Felsensteig der Nördlichen Kalkalpen. Über drei Kilometer zieht er sich von der Rappenseehütte zur Kemptner Hütte und verläuft dabei stetst über der 2000-Meter-Höhenmarke. Jahr für Jahr wird der Weg von sehr vielen ambitionierten Bergwanderern begangen. Dabei sind ausreichend Bergerfahrung oder aber ein Bergführer und der Höhe angepasste alpine Ausrüstung absolut notwendig. So lässt sich die Tour zu einem großen Erlebnis weit oben in der reinen Höhenluft gestalten, mit dem Spiel der Wolken über den Gipfeln, den atemberaubenden Ausblicken in die Lechtaler Berge, auf die Höfats, den Fellhornzug und ganz nah auf die steile Felspyramide der Trettachspitze!

Bild: Wilde Männle vor Absturz Archiv Heckmair-Auffermann

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